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KURIER-Test: Wie Blinde Elektroautos wahrnehmen

Ein Praxis- Hörtest des Motor-KURIER mit Blinden, die bei einer Garagenausfahrt die Wahrnehmbarkeit von heranfahrenden E- und Hybridautos beurteilten, zeigte, dass es noch gefährliche Schwächen gibt.

von Maria Brandl

01/22/2015, 05:30 AM

Es gibt immer mehr E- und Hybridautos in Österreich (siehe "Fakten"). Das sei in puncto Lärmreduktion und Umweltfreundlichkeit zu begrüßen, so Motor-KURIER-Leserin Renate Kraft-Knoll in einem Schreiben an uns, aber für Blinde gebe es "gemischte Gefühle. Da sich blinde Menschen ausschließlich akustisch orientieren, stellen unhörbare Fahrzeuge eine lebensgefährliche Bedrohung für sie dar." Betroffen seien aber auch "Kinder und ältere Menschen sowie Menschen, die gerade einmal nicht so aufmerksam schauen."

In den USA sind Warntöne für E- und Hybridautos bereits üblich, die EU sieht dies erst für 2021 vor. So lange wollen Frau Kraft-Knoll und viele andere Blinde nicht warten. Zudem halten sie die meisten aktuellen Warntöne für nicht ausreichend.

Praxistest

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Ob und was Warntöne bei E- und Hybridautos im normalen Straßenverkehr bringen, wollten wir in einem Praxistest ermitteln. Frau Kraft-Knoll organisierte rund zehn blinde Freunde, die sich als Tester zur Verfügung stellten. Drei Autoimporteure erklärten sich bereit, mit einem E- oder Hybridauto zu kommen.

Die Anordnung: Ausfahrt aus einer großen Tiefgarage auf eine stark befahrene Straße, die blinden Tester sind als Fußgänger auf dem Gehsteig. Also eine alltägliche, aber gefährliche Situation. Laut US-Studien verdoppelt sich mit E-Autos die Unfallgefahr in solchen Fällen, so Philipp Prückl, Uni Graz, in seiner Bachelorarbeit. Das Problem kommt auch bei sehenden Personen vor, wenn sie ihre Ohren zugestöpselt haben oder wenn sie gerade beim Telefonieren sind. Gerade bei dieser geringen Geschwindigkeit sollten die Warntöne der E-Autos besonders zur Geltung kommen.

Aha-Effekt

Beim Motor-KURIER-Praxistest folgte der Aha-Effekt auf den Fuß: "Und da ist wirklich ein Auto an uns vorbeigefahren?" Monika Weinrichter, Gründerin der Bürgerinitiative Elektra, und auch die meisten anderen blinden Tester konnten es nicht glauben: Obwohl der Kia E-Soul, der als Erster aus der Garage rollte, einen Warnton in einem "auffallenden" (hohen) Frequenzbereich hat, wurde er von den hellhörigen Testern inmitten des üblichen Verkehrslärms nicht gehört. Besser erging es den Testhörern mit dem Renault Zoe. Der Audi A3 E-Tron, der keinen Warnton hat, wurde nicht wahrgenommen. Bei einem Tempo unter 20 km/h fallen offenbar die Reifengeräusche im Umgebungslärm nicht auf.

Dass es sich beim "Überhören" um ein spezifisches Problem von Elektro- und Hybridautos im E-Modus handelt, zeigten die Reaktionen auf die Pkw mit Verbrennungsmotoren, die zwischendurch aus der Garage fuhren. Sie wurden alle bemerkt.

Der zweite Durchgang in der Garage, also ohne umgebenden Verkehrslärm, zeigte, dass die von den Blinden bemängelte fehlende Warnwirkung nicht von der Lautstärke abhängt. Die größte Schwachstelle liege in der Art des Warntons, gab Herr Knoll die Meinung seiner blinden Freunde wieder: Blinde sind darauf trainiert, gewisse Töne gewissen Gefahren zuzuordnen. Ein Pkw oder Lkw wird am Geräusch seines Verbrennungsmotors erkannt. Ein synthetischer Warnton, der nach Raumschiff Enterprise klingt, ist dagegen für Blinde nicht zuordenbar. Das sei ein großes Problem. "Wir wollen auch für elektrisch fahrende Pkw einen Warnton wie von einem Verbrennungsmotor. Er soll wie bei einem normalen Auto zunehmen, wenn das E-Mobil beschleunigt, und nicht schon bei 20 km/h enden, sondern auf jeden Fall bis 50 km/h aktiv sein." Die Rückmeldung über das Tempo via Geräusch sei nicht nur für Passanten wichtig, sondern auch für den Fahrzeuglenker, so Weinrichter.

Die Wissenschaftler Bodden und Belschner beschrieben dieses Dilemma schon vor Jahren, so Prückl in seiner Bachelorarbeit. "Das Geräusch eines Verbrennungsmotors ist das genuine Zeichen für ein Kraftfahrzeug und führt zu erhöhter Aufmerksamkeit von Passanten. Allerdings würde eine solche Nachbildung den technischen Fortschritt verschleiern, da der Elektromotor ("clean") den Verbrennungsmotor ("dirty") ersetzt, der Klang aber trotzdem "dirty", also schmutzig, bleibt.

Ein weiteres Problem bei der synthetischen Warntonbildung besteht offenbar auch darin, dass die Töne in Labors den Versuchspersonen vorgespielt, aber zu wenig in der Praxis, sprich, im Straßenverkehr getestet werden. Was heimische Experten zu diesem Problem sagen, lesen Sie im Zusatzartikel.

Von "sauberen" und "schmutzigen" Geräuschen

Wir baten die beteiligten Firmen sowie das Komitee für Mobilität sehbeeinträchtigter Menschen Österreichs (KMS), das zu dem Thema im BVIT-Projekt die Blinden vertritt, und die "Vlotte", Österreichs Pionierprojekt für E-Mobilität, um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen:

Motor-KURIER:Die EU fordert Warntöne für E- und Hybridautos verpflichtend erst nach 2020. Wie lautet Ihre Strategie?

Viele Blinde wollen als Warnton eine Nachbildung des Geräusches eines Verbrennungsmotors, weil sie gewohnt sind, das einem Kfz zuzuordnen, auch wenn der bei E-Fans als "schmutzig" gilt. Welchen Ansatz verfolgen Sie?

Elmar W. M. Fürst, KMS:Die EU Richtlinie 540/2014 schafft mit den Umsetzungsfristen 2019 und 2021 für sehbehinderte und blinde Menschen eine gefährliche Lage, da derzeit nur wenige Autohersteller freiwillig ihre geräuscharmen Fahrzeuge serienmäßig mit einem akustischen Warnsignal (AVAS) ausstatten. Die Parameter wie Lautstärke, Frequenzspektrum und Tempo bis zur zulässigen Deaktivierung sind empirisch zu erarbeiten. Zu gewährleisten ist, dass in dieser gegebenen Geräuschkulisse leisere Fahrzeuge nicht akustisch "unsichtbar" werden.

Wichtig ist, dass AVAS durch Lautstärke und Frequenz genauso wie ein Verbrennungsmotor Auskunft über den Fahrzustand (Beschleunigung, Abbremsen, Tempo) gibt. Ob die Nachbildung eines Verbrennungsmotorengeräuschs die günstigste Lösung darstellt, ist empirisch zu prüfen. Die Forschung zeigt, dass Schallfrequenzen oberhalb eines niedertourig laufenden Verbrennungsmotors eine bessere Richtungsbestimmung und Unterscheidung zum Umgebungslärm ermöglichen, was die Verkehrssicherheit für blinde und sehbeeinträchtigte Personen erhöht.

Christof Burtscher, Vlotte: An uns wurden bislang keine kritischen Hinweise zu dem Thema gestellt. Im städtischen Stop-and-go-Verkehr haben wir gemessen, dass E-Fahrzeuge um bis zu acht Dezibel leiser sind.

Heimo Aichmaier, AMP: Nationale und internationale Arbeitsgruppen arbeiten an wissenschaftlich fundierten technischen Spezifikationen eines "Acoustic vehicle alerting system (AVAS). Den Empfehlungen sollen dabei nicht Einzelinteressen zugrunde liegen, sondern eine rationale und fundierte Basis durch aktuelle, praxisnahe Studien. Verkehrssicherheit ist auch Teil des Verhaltens aller Verkehrsteilnehmer selbst. Der Vertrauensgrundsatz besagt, dass die Teilnahme am Straßenverkehr eine ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme erfordert und bei Personen mit Sehbehinderung, die vom Vertrauensgrundsatz ausgeschlossen sind, besondere Achtsamkeit gilt.

Gilbert Haake, Kia: Unser Kia Soul EV zeigt das Soundmuster bis 20 km/h. Kia wird natürlich den gesetzlichen Rahmenbedingungen Genüge tun. Im koreanischen R&D Center von Kia werden diverse Geräuschprofile getestet, dazu kann ich im Detail leider nichts sagen. Meine persönliche Meinung zu der Art des Warntons: Hier besteht erheblicher Informationsbedarf, das gewöhnliche Verbrennergeräusch hatte Jahrzehnte Zeit, gelernt zu werden. Mit entsprechenden Informationen für Sehbeeinträchtigte kann da sicher viel erreicht werden. Wir sitzen da in der Doppelmühle. Jahrelang wurde die Industrie von Politik und Medien angehalten, Geräuschemissionen zu reduzieren. Jetzt kommt das leise E-Auto und es soll ein Verbrennerbrummen simuliert werden. Eine Lösung könnte so aussehen: In den nächsten 5 bis 10 Jahren werden Autos untereinander Position, Geschwindigkeit und Richtung austauschen können, um Kollisionen zu verhindern. Da könnten auch Blinde "integriert" werden, etwa mit Smartphones und Ohrstöpsel. Dorit Haider, Renault:Die Renault E-Modelle (Twizy, Zoe, Kangoo ZE) verfügen bereits serienmäßig über einen akustischen Warnton, der bis 30 km/h aktiviert ist. Beim Twizy wird der Warnton per Knopfdruck eingeschaltet. Grundsätzlich hat Renault sehr viel über den besten Warnton geforscht, es gibt ja keine gesetzlichen Vorgaben. Ein Verbrennergeräusch als Warnton wurde diskutiert, aber wir würden damit die Chance vertun, die Lärmverschmutzung in Städten zu senken. Daher haben wir einen eigenen Warnton entwickelt, mit drei verschiedenen Geräuschen. Renault macht Geräuschtests mit verschiedensten Personengruppen, auch Blindenverbänden, auch im Verkehr.

Peter Weisheit, VW: In den USA ist bereits aus Gesetzesgründen ein Warnton für den E-Golf im Einsatz. Dieser Warnton ist dem Motorgeräusch eines Verbrennungsmotors nachempfunden. Für die EU-Versionen unserer E-Fahrzeuge ist noch 2015 der Einsatz eines optionalen Warngeräuschs geplant. Damit wird auch der E-Up mit einem ähnlichen Warnton als Hinweis für Fußgänger erhältlich sein. VW präferiert ebenfalls an einen Motor erinnernde Geräusche, die sich mit steigendem Tempo bzw. beim Beschleunigen ändern. Somit ist für Menschen mit Sehbehinderung eine Lokalisierung und Einschätzung des Fahrzustands besser möglich. Ab 30 km/h stellen beim E-Mobil die Reifen die Hauptgeräuschquelle dar – wie bei einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor. Daher wird ab diesem Tempo der Warnton/E-Sound für unsere E-Fahrzeuge deaktiviert. Wir stehen und standen zu dieser Thematik mit dem Blindenverband in Verbindung und haben diesen mehrmals nach Wolfsburg eingeladen. Dabei haben wir die von uns geplanten E-Sounds präsentiert, sowohl im/am Fahrzeug als auch bei typischen Vorbeifahrten am Zebrastreifen. Wir haben vom Blindenverband zu unserem E-Sound sehr positives Feedback bekommen.

Infos:kms.or.at, austrian-mobile-power.at, kia.at, renault.at, volkswagen.de.

Geräusch Laut Brockhaus (Naturwissenschaften und Technik) ein "Schallereignis ohne definierte Tonhöhe und Klangfarbe". Warngeräusche für Blinde sind bisher nur in den USA gesetzlich geregelt.

Blinde In Österreich leben derzeit laut Statistik Austria 3000 blinde Personen, 318.000 mit dauerhafter Sehbehinderung. Es sind mehr Frauen als Männer betroffen.

Pkw mit E-Antrieb In Österreich hat sich 2014 die Zahl der neu zugelassenen E-Autos mit 1281 verdoppelt, während jene der Hybridautos um 8 % auf 2360 gefallen ist (Gesamt-Pkw-Bestand: ca. 4,8 Mio.).

Gesetze International arbeitet die UN-Arbeitsgruppe "Globale Technische Regulierung" (GTR) am Thema Warnton für leise Fahrzeuge. Auf EU- Ebene ist die Verordnung Nr. 540/ 2014 dafür relevant. In Österreich wurde im BMVIT (Verkehrs- und Innovationsministerium) die Arbeitsgruppe AVAS gegründet. Ergebnisse werden für 2015 erwartet.

Die unsichtbare Gefahr

Seit Jahren sind Warntöne fixes Thema auf E-Mobilitätskongressen. Die Smartphone-Generation, geübt in der Individualisierung der Klingeltöne, präsentiert dann meist eine Flut an "lustigen" Warntönen, was oft in lautem Gelächter endet.

Für die Betroffenen, Blinde und Sehbehinderte, Ältere und Kinder, ist das Thema dagegen nicht "lustig", sondern überlebenswichtig. Das zeigte auch der Motor-KURIER-Praxistest mit Blinden. "Da ist wirklich ein Auto vorbeigefahren?" Die blinden "Testhörer und Testhörerinnen" konnten es nicht glauben, dass gerade ein E-Auto aus einer Garagenausfahrt an ihnen vorbeigefahren war, noch dazu eines mit Warnton, und sie, ohne Warnung, in das Auto hineingelaufen wären, weil sie es nicht hörten. Die Szene wiederholte sich.

Während weltweit seit Jahren ein Heer an (sehenden) Beamten, Technikern und Musikwissenschaftlern über den richtigen Warnton Marke "Raumschiff Enterprise" debattiert, fordern Blinde, auch beim Motor-KURIER-Praxistest, dass das synthetische Warngeräusch von leisen Fahrzeugen dem Brummen eines Verbrennungsmotor ähneln sollte. "Das Geräusch eines Verbrennungsmotors ist das genuine Zeichen für ein Kfz und führt zu erhöhter Aufmerksamkeit von Passanten", stellten Wissenschaftler schon vor Jahren fest.

Diese Tatsache schon deshalb abzulehnen, weil man das "saubere" E-Auto durch das Geräusch eines Verbrennungsmotors nicht "verschmutzen" will, ist hanebüchen.

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